Dear Reader: Komplett surreal

Dear Reader ist das musikalische Projekt von Cherilyn MacNeil. Die Südafrikanerin gründete es 2006 mit ihrem damaligen Lebenspartner Darryl Torr. 2010 trennten sich die beiden. Seitdem macht sie mit verschiedenen Gastmusikern unter gleichem Namen weiter. Anfang April erschien das vierte Dear Reader-Album „Rivonia“. Kurz darauf erhielt MacNeil für ihre Arbeit an dem Soundtrack „Oh Boy“ den „Deutschen Filmpreis“. Ein Gespräch mit MacNeil, die seit 2010 in Berlin lebt.

Warum sind Sie nach Berlin gezogen?
Das hatte verschiedene Gründe. Erst einmal hatte ich die Möglichkeit und packte sie beim Schopfe. Es macht für mich mehr Sinn, wenn ich in Europa lebe. Nachdem der Vertrag mit dem Berliner Label City Slang zustande gekommen war, gab es hier viel mehr Arbeit für mich als zuhause. Davon ab ist die Szene für die Musik, die ich mache, in Südafrika sehr klein. Und sie ist vom Rest der Welt sehr isoliert. Also warum nicht dorthin ziehen, wo ich geschäftiger sein kann und besser vernetzt bin?
Außerdem wohnte ich mein ganzes Leben lang in Johannisburg. Ich sehnte mich nach einem neuen Ort und neuen Erfahrungen. Und das auf zwei verschiedenen Ebenen: Als Musikerin wollte ich an einen lebhafteren Ort, an dem ich etwas lernen und mich inspirieren lassen kann. Aus persönlichen Gründen wollte ich wiederum an einen entspannteren Ort. Im Vergleich zu Berlin verströmt Johannisburg eine sehr hektische Energie.

Ist Ihre Musik von dem Ort beeinflusst, an dem sie entsteht?
Meine Songs kommen eher aus meinem Inneren heraus und könnten daher überall geboren werden. Aber vielleicht irre ich mich da auch. Es gibt sicherlich Stellen in meinen Songs, die von Orten beeinflusst sind, die ich besucht habe. Ich ging zum Beispiel nach Portland, um das Album „Idealistic Animals“ zu schreiben. Dort stieß ich auf eine bestimmte Chorgesangsart, Sacred Harp genannt. Die habe ich in Berlin mit einer Gruppe ausprobiert, was wiederum auf den Gesang auf meinem neuen Album „Rivonia“ abgefärbt hat. Ich glaube, wenn ich noch in Südafrika leben würde, würden meine Songs schon anders klingen. Es kommt einfach darauf an, mit welchen Dingen ein Mensch konfrontiert wird.

Wie war es, beim „Deutschen Filmpreis“ eine „Lola“ für die beste Filmmusik überreicht zu bekommen?
Es war komplett surreal. Ehrlich gesagt waren wir schon geschockt, überhaupt nominiert worden zu sein. Wir hatten nicht im Geringsten damit gerechnet, zu gewinnen. Es war ja das erste Mal für uns alle, dass wir Musik für einen Film komponiert hatten. Es ist doch irgendwie absurd, dass wir uns gegen den bekannten Komponisten Max Richter und die Macher des „Cloud Atlas“-Soundtracks durchsetzen konnten. Ich glaube, unsere jazzige Musik wie auch der Film an sich waren mal was anderes, etwas frischer Wind sozusagen. Das hat die Leute wohl begeistert. In meinen Augen hat der Preis wenig mit mir zu tun. Dennoch genieße ich ihn und ziehe ihn nicht in Zweifel.

Kai Florian Becker (Mai 2013)