Die ersten Liveklänge, die in der fast ausverkauften Rockhal zu hören waren, kamen von Thought Forms. Das Trio aus dem südwestenglischen Wiltshire ist seit 2004 aktiv und veröffentlicht Ende des Monats ausgerechnet bei Invada Records sein zweites Album „Ghost Mountain“. Invada ist nämlich das Label von Geoff Barrow, seines Zeichens Mitbegründer von Portishead und deren Hauptarrangeur. Mit Thought Forms nahm er eine überaus interessante Band unter Vertrag. Charlie Romijn (Gitarre, Gesang), Deej Dhariwal (Gitarre, Gesang) und Guy Metcalfe (Schlagzeug) zelebrieren einen progressiven Sound, der Postrock und ab und zu auch Doom bzw. Drone Rock und Noiserock à la Sonic Youth zitiert. Was sie in der Rockhal präsentierten war beileibe keine fröhliche, sondern eine durch und durch kathartische Musik, die somit sehr gut zu den hypnotischen Songs von Portishead passte. Sicherlich waren die Thought Form-Lieder nicht für jeden Portishead-Fan ein Ohrenschmaus. Wer sich jedoch auf diese ungewöhnliche Stilkombination einließ, der wurde in düstere Traumwelten entführt.
Interessant auch die Anordnung der Musiker. Gitarristin Dhariwal stand rechts neben dem Schlagzeug, aber mit ihrem Körper seitlich zum Publikum und damit frontal in Richtung von Romijin, der links stand. Nur der Schlagzeuger war zum Publikum gerichtet. Kurzum: Diese Band würde man gerne mal in einem kleinen Club wiedersehen und obendrein unter etwas besseren Soundbedingungen.
Von Clubgröße haben sich Portishead längst verabschiedet. Auch im fünften Jahr ohne neues Album konnten sie die Rockhal fast ausverkaufen. Das will was heißen. An ihrer Anziehungskraft haben Barrow, Beth Gibbons und Adrian Utley noch immer nichts eingebüßt. Diesmal kamen sie nicht in Dreierbesetzung, sondern ergänzt um vier weitere Musiker und mit riesiger Leinwand, auf der Videosequenzen gepaart mit Livemitschnitten gezeigt wurden.
Es ist eigentlich erstaunlich, dass sie derzeit überhaupt touren, da lediglich Barrow in letzter Zeit mit seinem Nebenprojekt Beak zugange war und mit diesem im letzten Jahr ein zweites Album veröffentlichte. Derweil hörte man von Portishead wenig bis gar nichts. Zumindest keine konkreten Pläne bezüglich eines vierten Studioalbums. Aber sei es drum: Wer möchte schon ein Konzert der TripHop-Pioniere verpassen?
Sie begannen mit Songs ihres neuesten, 2008 veröffentlichten Albums „Third“ – namentlich „Silence“ und „Nylon Smile“. Die Stimmung im Publikum war aber erst gelöst und euphorisch, als der erste Klassiker ertönte: „Mysterons“, der Auftaktsong ihres Debütalbums. Auch 19 Jahre nach seiner Veröffentlichung hat dieser Song eine ungeheure Ausstrahlung und Sogwirkung für gute Laune. Wie nahezu alles Songs wurde er an diesem Abend in überarbeiteter Form vorgetragen: er klang bizarrer, verdrehter und verspielter.
Der nächste Höhepunkt war „Sour Times“ mit seinem von Gibbons leidender Stimme dargebotenem Refrain „Cause nobody loves me / It’s true / Not like you do“. Ebenso ergreifend war das drückende „Wandering Stars“, das mit Stakkato-Beats und -Klängen unterlegte „Machine Gun“, „Over“, „Cowboys“ und natürlich „Glory Box“ mit der Kerntextzeile „Give me a reason to love you/Give me a reason to be/A woman/I just want to be a woman“. Letzteres war das vielleicht emotionalste Lied des Abends. Und es war einer von vielen unglaublich genialen und rundum perfekten Songs dieser fantastischen Band, die man noch in zwanzig Jahren gerne hören und lieben wird. Auch wenn sie kein Album mehr machen werden oder noch ewig dafür brauchen sollten, hoffentlich werden sie nie aufhören, solch denkwürdige Konzerte zu geben.
Kai Florian Becker (März 2013)