Es ist für eine energiegeladene, quirlige Rock-Band sicherlich höchst ungewöhnlich, ein Album mit einem Liebeslied zu eröffnen. Aber den sympathischen Schotten Simon Neil (Gesang, Gitarre), James Johnston (Bass, Gesang) und Ben Johnston (Schlagzeug, Gesang) kann man selbst das nicht übel nehmen. Zumal der besagte Auftaktsong „Different People“ nach etwas mehr als zwei Minuten eine überraschende Wendung nimmt. Plötzlich wird die romantische Musik, die von traurigen und sehnsüchtigen Worten flankiert wird, von furiosem progressivem Rock abgelöst. Da sind sie dann wieder diese typischen Biffy Clyro-Töne, -Rhythmen und -Gesänge.
Mit diesem unverwechselbaren Stil – einer gelungenen und gar nicht anbiedernden Kombination aus Foo Fighters und Muse – haben die Drei in den letzten Jahren immer größere Erfolge feiern dürfen. Längst sind sie keine Club-Band mehr und bestehen auch vor tausenden Konzertbesuchern. Es gibt wenige dermaßen überzeugende Live-Bands bzw. Musiker, bei denen der Zuschauer das Gefühl hat, sie würden sich allesamt bis auf das letzte Quäntchen Energie verausgaben und alles – und sogar noch mehr – aus sich herausholen. Was auf der Bühne funktioniert, funktioniert bei Biffy Clyro auch im Studio. Was sie zu noch einer selteneren Gattung Bands macht.
Dass es das neue Album „Opposites“ überhaupt gibt, ist ein kleines Wunder. Die Vorzeichen standen nicht gut. Die Alkoholsucht von Schlagzeuger Johnston brachte das nach außen hin stets grundsolide erscheinende Bandgefüge ins Wanken. Obendrein waren die Schotten nach den vielen Konzerten im Zuge der Veröffentlichung ihres Vorgängerwerks „Only Revolutions“ (November 2009) ausgepowert.
Doch irgendwann fing Neil an, Songs zu schreiben – ganze 45. Aus denen suchten sie 24 heraus und nahmen im Studio in Kalifornien mit Produzent GGGarth Richardson (Red Hot Chili Peppers, Rage Against The Machine) 14 für die reguläre CD-Edition und 20 für die Doppel-CD-Variante (mit DVD) aus.
Sie hatten nämlich beschlossen, „es nicht zuzulassen, dass die Trinkerei uns einen Strich durch die Rechnung machen und etwas zerstören würde, womit wir unser bisheriges Leben verbracht hatten“, erzählt Neil. Die Aufnahmen zogen sich aber in die Länge, die Zukunft der Band stand auf dem Spiel. Was u.a. in „Biblical“ thematisiert wird.
Doch letztendlich strotzen Biffy Clyro auf „Opposites“ nur so vor Kraft. Die Songs sind sehr ausgewogen: einerseits wilde Rock-Kapriolen, bei denen die Tempokurve im Zickzack verläuft, andererseits ruhige melancholische Songs. Und damit es um keinen Preis langweilig wird, hatten sie sich obendrein ein Orchester („Opposite“), Blechbläser („Spanish Radio“) und einen Dudelsackspieler („Stingin‘ Belle“) ins Studio bestellt. Biffy Clyro haben sich erneut weiterentwickelt – und hoffentlich auch so sehr zusammengerauft, dass ihr sechstes Studioalbum noch lange nicht ihr letztes war.
Kai Florian Becker (Januar 2013)