Friss oder stirb!

Stellen Sie sich mal vor, Sie würden bei Ihrem Arzt anrufen und nach einem Termin fragen – mit der Vorgabe, sie könnten werktags ab 15 Uhr. Die Sprechstundenhilfe sagt daraufhin, okay, morgen Mittag um 14 Uhr können Sie gerne kommen, da ist noch ein Termin frei.

Dieser Dialog spielt sich oft zwischen Plattenfirmen bzw. Promotion-Agenturen, die im Auftrag von Plattenfirmen arbeiten, und Journalist ab, wenn es um die Terminierung von Interviews geht. Verständnis dafür, dass der Journalist nicht den lieben langen Tag ständig parat sein kann (geschweige denn will), um ein Interview zu führen, gibt es fast nie.

Im Gegenteil: Nicht selten wird frei über die Zeit des Journalisten verfügt. Statt wie geplant um 17 Uhr ruft der Künstler, dessen Agent oder dessen Manager aus heiterem Himmel um 14:45 Uhr an und bittet darum, das Interview jetzt gleich machen zu wollen. Schließlich habe der Interviewte nachher man keine Zeit mehr. Friss oder stirb. Ob der Journalist bereits seine Fragen parat oder nichts anderes im Sinn hat, das steht selten zur Debatte.

Noch schöner ist es, wenn der Journalist nach getaner Arbeit, ergo in der Freizeit, einen Interviewtermin wahrzunehmen darf, um in den seltenen Genuss eines Gesprächs mit dem bekannten Musiker Icks Ypsilon zu kommen. Okay, für gewisse Künstler nimmt man dies mehr als gerne in Kauf. Doch wenn der Journalist letztlich zig mal die ihm zuvor auf streng geheimen Kanälen übermittelte Telefonnummer anklingelt und immer und immer wieder zur Mailbox weiter geleitet wird, dann muss man sich fragen, was das ganze Theater soll. Wenn der zu Interviewende im Nachhinein wenigstens einsichtig wäre und bemüht wäre, einen Ausweichtermin zu koordinieren, wäre alles in Ordnung. Pustekuchen! Der Dumme ist der Journalist. Der hat am Ende kein Interview, muss die Redaktion enttäuschen (die dann vielleicht noch an ihm Zweifel hegt) und damit einhergehend das erhoffte Honorar abschreiben. Dafür hat er immerhin auf dem Habenseite unzählige Anrufe auf ein Mobiltelefon im Ausland, massenweise Mails, eine nette Telefonrechnung, eine fertige Liste mit Fragen und mindestens einen verhunzten Abend. Wer dann noch meckert, ist sein Leben lang bei der Plattenfirma bzw. der Promotion-Agentur unten durch.

Sprechstundenhilfe: “Wer spricht da? Ach, Sie sind es. Oh nein, der Doktor ist derzeit leider nicht zu sprechen. Wir haben erst wieder einen Termin in einigen Wochen frei. Wie wäre es in zwei Monaten? Vormittags aber nur.”

Kai Florian Becker (Dezember 2009)