Mike Patton: Einst Sänger von Faith No More

Beeindruckende Sänger gibt es derer viele. Unter jenen, die ihre Stimmbänder zu einer Kapitalanlage gemacht haben, die einen Schritt weiter gehen und ihre Stimme nicht ausschließlich zum Artikulieren von Worten, sondern auch von Tönen einsetzen, gibt es wenige. Die Stimme wird zum Instrument, zur Rhythmusmaschine ja, gar zum Geräusch-Labor. Das können mitunter seltsame und verstörende Klanggebilde sein, die bei einem Vokal-Akrobaten wie Mike Patton einer ist im Rachen entstehen.

Wenn er will, kann er singen wie ein junger Gott. Dann schmelzen die Damen im Publikum dahin – nicht nur ob seiner Ausstrahlung und seines Charmes. Anstatt dort weiterzumachen, wo er im April 1998 als Frontmann von Faith No More aufgehört hatte, kehrte er fortan den großen Bühnen den Rücken zu und vergrub sich im Untergrund. In Patton brodelte es seit einigen Jahren. Der Ruhm stieg ihm keineswegs zu Kopf. Er löste in ihm aber das Verlangen nach außergewöhnlichen Abenteuern aus. Vorbei die Zeiten, in der er die Commodores-Ballade „Easy“ trällerte oder mit den Hits „Epic“ oder „Midnight Crisis“ das Stadionpublikum begeistert hatte. Es zog ihn an der Seite des Free Jazz- und Noise-Experimentalisten John Zorn auf die kleine Bühne des New Yorker Avantgarde-Clubs „Knitting Factory“, wo er ins Mikrofon schrie, hustete, rülpste, keuchte, stöhnte und gurgelte – die komplette Palette des oralen Klangarchivs. Was für viele FNM-Fans wie eine merkwürdige Kehrtwendung im Leben des Mike Patton ausgesehen haben mag, war in Wirklichkeit ein Schritt zurück zu den Wurzeln. Bevor er Ende der Achtziger zu FNM stieß, war Patton schon sechs Jahre lang Mitglied von Mr. Bungle. Mit High School-Freunden gründete er Anfang der Neunziger die in allen Belangen ungewöhnliche Band. Jeder musste sich ein Pseudonym zulegen – Patton wurde Vlad Drac – und gemeinsam wurden die Genre-Grenzen im Galopp übersprungen. Heavy Metal, Funk, Punk, Rock und Jazz wurden meist gleichzeitig durch den Wolf gedreht.

Wahrscheinlich hätten nie mehr als eine handvoll Musikverrückter von Mr. Bungle Notiz genommen, wenn Patton dem Angebot von Faith No More standgehalten hätte. So wurden FNM um eine Attraktion reicher – nämlich um einen charismatischen und scheinbar durchgeknallten Sänger, der auf der Bühne sein Innerstes nach Außen kehrte – und Mr. Bungle standen urplötzlich im Blickfeld der Medienwelt. Patton gab FNM nicht nur eine neue Stimme, er brachte zudem ein neues Image, mehr Vielfalt und Genialität mit. All das eben, was er sich jahrelang bei Mr. Bungle antrainiert hatte. Es ist müßig darüber zu spekulieren, wo FNM heute stehen würden. Fest steht, ihr Bassist werkelt nunmehr als Produzent, ihr Schlagzeuger trommelt bei Ozzy Osbournes Begleitband, ihre Gitarristen (gegen Ende wechselten sie im Halbjahresrhythmus) sind abgetaucht und Patton arbeitet wie ein Besessener an allen Fronten.

1999 gründete er mit Greg Werckman das Randgruppen-Label „Ipecac Records“. Dort veröffentlicht er Alben, die kein anderes Label auch nur geschenkt bekommen möchte. Ihnen fehlt der Mut zum Risiko, die Liebe zur Musik ist ihnen abhanden gekommen. Patton ist der kommerzielle Erfolg nicht egal. Aber er legt größeren Wert auf die Kunstfertigkeit seiner von ihm betreuten Künstler.

Wenn er sich nicht um das Label kümmert, probt er mit einem seiner zahlreichen Projekte. Entweder mit Mr. Bungle, die es nach wie vor geben soll. Oder mit den Krach-Terroristen Tomahawk oder den völlig durchgeknallten Fantômas. Zeit für Soloalben blieb auch. Die allerdings sind harte Brocken und nur absoluten Fans zu empfehlen. Keine Idee ist Patton zu abwegig, für nichts scheint er sich zu schade zu sein. Er hat sein Leben der Musik verschrieben und benötigt bis auf eine regelmäßige Dosis Kaffee keine Suchtmittel, um seinen Motor am Laufen zu halten.

Info:

Michael Allan Patton wurde am 27. Januar 1968 im kalifornischen Städtchen Eureka geboren. Im Alter von 15 Jahren gründete er die sagenumwobenen Mr. Bungle. Sechs Jahre später wurde er für den frei gewordenen Posten als Sänger von Faith No More engagiert. Mit ihnen nahm er die Alben „The Real Thing“, „Angel Dust“, „King For A Day, Fool For A Lifetime“ und „Album Of The Year“ auf. Nach ihrem Aus gründete er 1999 das Label „Ipecac Records“, auf denen er Alben der nicht minder verrückten Melvins, der Country-Band The Lucky Stars oder der eigenen Projekte Fantômas und Tomahawk veröffentlicht hat. 1996 und 1997 erschienen die schwer verdaulichen Soloalben „Adult Themes For Voice“ und „Pranzo Oltranzista“. Demnächst steht das Debüt seines neuen Projekts Peeping Tom an.

Kai Florian Becker (im Januar 2003)