Electricity 2003 – eine Clubreise

Frühaufsteher hatten beim „Electricity Festival“ keine Chance. Das Beste kam – wie erwartet – erst mitten in der Nacht. Ausdauer und Kondition waren gefragt, um drei Nächte lang durchzuhalten. Das Stehvermögen wurde erfreulicherweise durch einige unvergessliche Momente belohnt. Freitagnacht, 1 Uhr. Das Soul II Soul Soundsystem hatte gerade die Kontrolle über das DJ-Pult im „Club No. 1“ übernommen. Soul II Soul, eine der begehrtesten und bekanntesten britischen Dance-Bands der späten Achtziger und frühen Neunziger („Back To Life“ und „Keep On Movin'“), war vertreten durch Jazzie B. Der ist mit Herz und Seele Entertainer. Nur zu gerne moderierte er den nächsten Song an. Die Mischung aus altbekanntem und neuem Material war atemberaubend. Die letzten drei Dekaden schwarzer Musik wurden binnen weniger Minuten abgearbeitet. „Jogi“, dem Ohrwurm von Panjabi MC, folgte der Tanzflächenfüller schlechthin: Deee-Lites „Groove Is In The Heart“. Immer wieder gerne gehört und immer wieder gerne dazu getanzt. So ging es weiter: querbeet und ohne jegliche Scham, ungewöhnliche Konstellationen zu schaffen. Dance, HipHop, Funk, Soul oder Disco – Hauptsache, die Songs waren tanzbar. Einige Gäste erreichten nicht einmal die Garderobe und stürmten mit Jacke schnurstracks auf die Tanzfläche. Wenn an diesem Abend ein Pokal für die beste „Partymusik“ vergeben worden wäre, Jazzie B hätte ihn in sein Hotel tragen müssen. Ihm ging es nicht um technische Feinheiten. Ein unsauberer Übergang von einem zum nächsten Track, das kümmerte ihn nicht. Geschweige denn die „Clubberer“. Das Motto des Abends kam von Jazzie B selbst: It’s time to shake your booty – Zeit, euren Hintern zu bewegen! Gesagt, getan. Am liebsten hätte man Jazzie B spontan vom DJ-Pult weg für seine nächste Party gebucht.

Im „N8Werk“ stand ebenfalls schwarze Musik im Mittelpunkt. Zur „Jam FM Black Beat Party“ hatte die saarländische Dependance des Berliner Black Music-Senders „Jam FM“ unter anderem den deutschen Rapper MC Rene eingeladen. Auch hier wurde eifrig getanzt.

Die Clubreise führte in die „Kufa“. Dort konnte von Bewegungsfreiheit, wie sie anfangs im „Club No.1“ vorzufinden war, keine Rede sein. Klitschnass geschwitzte Leiber quetschten sich an einem vorbei. Den Arm nicht ganz im Takt in die Luft boxend und Jubelschreie ausstoßend, drängten sich euphorische Techno-Fans respektive Verehrer von Monika Kruse um das DJ-Pult. Vor Jahrzehnten war es undenkbar, dass ein „Nicht-Musiker“ ein Popstar werden könnte. Heute ist es gang und gäbe, dass DJs vergöttert werden. Das hat dann auch nichts damit zu tun, dass der Star eine attraktive Frau ist. Sobald Kruse eine kurze Verschnaufpause einlegte, musste sie ihren Fans Eintrittskarten und Flyer signieren. Was sie mit einem freundlichen Lächeln erledigte, ehe sich die Berlinerin hochkonzentriert dem Justieren der rotierenden schwarzen Scheiben hingab. Mit ohrenbetäubender Lautstärke schickte sie die Beats durch die Boxen. Überall wo man hin sah wurde getanzt: auf der Treppe, im Gang oder auf dem Tisch.

Von solch einer ausgelassenen Stimmung konnten die Akteure der „VIVA French Connection“ nur träumen. Die interessierte weniger Jugendliche als erwartet. Herrschte eine Woche zuvor bei Blumentopf noch reger Andrang in der Messehalle 1, waren am Samstag nur 300 HipHop-Fans gekommen. Dass die Stimmung nicht in den Bereich des Siedepunktes kam, spürten die Künstler. Sie waren verärgert und suchten die Schuld beim Publikum. Tefla & Jaleel unterstellten den Zuschauern, wohl zum ersten Mal auf einem HipHop-Event zu sein. Und ihrem Kollegen Spax konnten sie, die Fans, auch nichts recht machen. Sie tanzten und jubelten ihm zu wenig. Während Tefla & Jaleel gnadenlos daran scheiterten, die Stimmung anzuheizen, zog Spax einen Joker aus dem Ärmel: Er mischte sich unter das Volk und beeindruckte mit einem Freistil-Rap. Das kam an. Die professionellsten Rapper waren zweifelsohne 3e Oeil aus Marseille. Sie mokierten nicht die keineswegs optimalen Sound-Bedingungen. Sie kamen, rappten und siegten. Wie von der Tarantel gestochen sprangen die drei Rapper kreuz und quer über die Bühne und zeigten der deutschen Konkurrenz, was Professionalität ist. Darbietung und Sound waren mindestens eine Klasse besser. Weitere Bands dieses Kalibers hätte man sich gewünscht. Vor allem deutsche. Die aber verblassten gegen die französische Konkurrenz – ob sie nun Spax, Tefla & Jaleel oder Creutzfeld & Jakob hießen.

Kai Florian Becker (im November 2003)