Tocotronic: Die Unendlichkeit

Die Hamburger Schule haben Tocotronic längst hinter sich gelassen und sich seit deren Hochzeiten weiterentwickelt. Ihre Musik ist nicht nur erwachsener und erhabener, sondern auch vielfältiger geworden. Ihr neuestes Werk, “Die Unendlichkeit”, ist größtenteils ein Rock-Album. Das eröffnet mit einem regelrechten Wow-Effekt: dem Titelstück, in dem Postrock-Einflüsse mit schwerfälligen, dunklen Gitarrenakkorden, die schon als Black Metal-Anklänge beschrieben wurden, und psychedelischen Soundflächen fusionieren. Sofort haben Tocotronic die Aufmerksamkeit des Hörers geweckt. Die ist ihnen auch in der Folge sicher: In “Electric Guitar” galoppiert die Band von Streichern begleitet durch die Prärie, während Frontmann Dirk von Lowtzow von einer jugendlicher Liebe, Haarspray und Pickeln erzählt. Der “Musikexpress” fühlte sich nicht ganz zu Unrecht an Chris Isaak erinnert. Experimentell wird es in “Unwiederbringlich”, ein Lied über den Tod. Kurz vors Ende haben Tocotronic die Akustikballade “Ich Würd’s Dir Sagen” und das epische “Mein Morgen” platziert und damit viel zur Dynamik dieses Albums beigetragen.

“Die Unendlichkeit” ist ein biografisches Album geworden. Zuletzt hatte sich die Band laut Von Lowtzow ein bisschen “hinter Manifesten, Theorie-Referenzen und dem Formalismus versteckt”. Nun jedoch berichten sie “mit ganz einfachen Worten, offen und ungepanzert (…) über (sich) selbst. So entsteht eine Erzählung über Zusammenhalt, Angst und Selbstermächtigung. Über Beleidigungen, Liebe, Flucht, Tod, Einsamkeit, Sucht, Begehren und Hoffnung. Der Alltag kann urplötzlich unheimlich werden, die Abgründe lauern zwischen den Zeilen. Im Klang der Musik verflüchtigen sich die Grenzen zwischen dem was war, dem was ist und dem, was sein kann. Im Blick zurück erkunden (sie) die Zukunft.” Nicht nur in den Texten, auch musikalisch blicken Tocotronic zurück. Bestes Beispiel: “1993”.

Beim Instrumentarium haben sie diesmal aus dem Vollen geschöpft. Es umfasst das monophonische Tasteninstrument Ondes Martenot, Synthesizer, ein CP70-Piano, Cello, Geige, Bratsche, Farfisa-, Hammond-Orgel und ein Mellotron. Das dominierende Instrument ist zumeist die E-Gitarre – siehe den eingangs erwähnten Auftakt oder “Hey Du”, wenn sich diese in wildgewordener Rock’n’Roll-Manier in den Vordergrund drängt. In “Ich Lebe In Einem Wilden Wirbel” werden die Gitarrensaiten mit Solo-Einlagen und hartem Geschrammel malträtiert. Dem gegenüber steht Von Lowtzows ruhige Stimme. Die unterschwellige Aggressivität auf “Die Unendlichkeit” gefällt – so wie dieses Album in seiner Gänze gefällt.

Kai Florian Becker (Januar 2018)