Wenn man auf der Heimfahrt in der Gruppe darüber sinniert, welches die besten Konzerte waren, denen man bisher beigewohnt hat, dann deutet das darauf hin, dass das kurz zuvor erlebte ein denkwürdiges gewesen sein muss. Genauer gesagt wird das Konzert der australischen Rockband Nick Cave & The Bad Seeds wahrscheinlich in die persönlichen Annalen vieler der geschätzten 5.500 Rockhal-Besucher eingehen. Das klingt erst einmal sehr gewagt und hoch gegriffen. Nicht aber, wenn ein Künstler mit seiner Band zwei Stunden lang eine Heerschar von Fans in seinen Bann zieht und man als Teil dieser Angst haben musste, beim Verlassen des Saals etwas imminent Wichtiges zu verpassen – sei es auch in aller Eile für die Notdurft. Um noch deutlicher zu werden: Wenn die Spannung über zwei Stunden hinweg nie an Kraft verliert und nicht einmal ein annähernd halbgarer Song dargeboten wird, welcher andere Schluss kann dann nach einem solchen Erlebnis gezogen werden? Eben.
Alles begann mit „We No Who U R“ und „Jubilee Street“, beide vom aktuellen Studioalbum „Push The Sky Away“, das im Februar auf den Markt kam und bereits erschreckend früh im Jahr seine Anwartschaft auf den Thron „Album des Jahres“ beanspruchte. Selbst nach neun Monaten haben dessen Songs nichts an Qualität eingebüßt. Sie wollen sich partout nicht tot hören lassen. Jedes Mal aufs Neue macht es Spaß, ihnen gebannt zu lauschen.
So auch am Freitagabend in Esch – und das für Großkonzertverhältnisse bei absolut perfektem Sound. War dieser am Montag bei den Alternative Rockern Pixies gerade noch passabel, hatte Caves Toningenieur ein wesentlich besseres Händchen und zauberte CD-Qualität aus dem Mischpult. Irgendwie war am Freitag sowieso alles perfekt: der Sound, die Songauswahl und natürlich auch die Band des 56-jährigen Australiers: The Bad Seeds. Die Herren um Multiinstrumentalist Warren Ellis – Typ: Catweazle trifft Räuber Hotzenplotz – entpuppten sich als erfahrene Profis, die rein gar nichts anbrennen ließen und sich – bis auf den extrovertierteren Ellis – stets weit im Hintergrund hielten und Cave allein die große Bühne überließen. Der tanzte ausgelassen und stimmte mit voller Inbrunst seine Texte an. Er sang sie nicht, er lebte sie. Dabei wollte er sich natürlich nicht stören lassen. So kanzelte er bei der Ansage zu „Tupelo“ einen Zwischenrufer mit einem knappen „Fuck you!“ ab. Von da an war Ruhe. Gott war erzürnt, Gott hatte gesprochen – und nun war genau der richtige Zeitpunkt für das kraftvolle, wütende „Tupelo“. Noch ein Lied strotzte vor Energie: Bei dem enorm druckvollen „Red Right Hand“ hätte sich niemand gewundert, wenn der Schlagzeuger bei der Wucht, mit der er auf die Felle eindrosch, diese zum Reißen gebracht hätte.
Kurz darauf fragte Cave das Publikum, welche Songs er mit seiner Band noch spielen solle. Die Antwort auf die Zurufe war eine brillante Darbietung der bekannten Ballade „Into My Arms“, für die er am Piano Platz nahm. „The Mercy Seat“ beendete den ruhigen Teil des Konzerts, im Zuge dessen auch der vermeintliche Mottosong des Abends gespielt wurde: „God Is In The House“.
Auch „Stagger Lee“ und „Push The Sky Away“ fügten sich nahtlos in die Aneinanderreihung erstklassiger Lieder ein. Gleiches galt für die Zugaben, die mit „We Real Cool“ eingeläutet wurden. Oh ja, cool waren sie. Nach dem bisherigen Album des Jahres im Vorbeigehen noch das Konzert des Jahres abgeliefert – beachtlich! Den Schlusspunkt setzten sie mit dem hinreißenden „The Weeping Song“ und dem wütend-lauten „Jack The Ripper“. Letztgenannter Song rüttelte einen aus dem unbeschreiblichen Traum wach, der dieses Konzert war. Danke, Gott und seinen Mannen.
Kai Florian Becker (November 2013)