Midge Ure: Wie ein Urlaubstrip

Er hätte Sänger der Sex Pistols werden können, spielte dann aber in der Punkband The Rich Kids. Danach wurde er Frontmann von Ultravox, gründete Visage, stand mit Thin Lizzy auf der Bühne und schrieb mit Bob Geldorf den Band Aid-Hit “Do They Know It’s Christmas?”. Davon ab ist er seit Jahren erfolgreicher Solomusiker. Das Leben von Midge Ure ist wahrlich bewegt und ein Interview mit ihm kurzweilig und unterhaltsam zugleich.

Wenn Sie zurückblicken auf all das, was Sie als Musiker erreicht haben, sind Sie stolz auf sich?
“Ehrlich gesagt, kenne ich niemanden, der so denkt. Andererseits gibt es persönliche Momente in meinem Leben, die vielleicht nicht die offensichtlichen Höhepunkte sind, da hätte ich mich schon kneifen können. Beispielweise als ich mit Eric Clapton in meinem Haus in der Karibik Gitarre spielte. Wir saßen da und spielten ein paar alte Blues-Lieder. Phänomenal. Das war das absolut Größte für mich. Ich erinnere mich noch, dass ich als Kind hinten auf meiner Jacke stehen hatte: Clapton is god! 15 Jahre später spiele ich zusammen mit ihm. Es sind nicht die Nummer Eins-Hits, sondern die kleinen Dinge, die mir etwas bedeuten.”

Haben Sie die Session mitgeschnitten?
“Nein, sie existiert nur in meinem Kopf. Haha. Ich weiß noch: Ich hatte eine Akustik- und eine E-Gitarre. Letztere hatten wir an einen Ghettoblaster angeschlossen, weil ich keinen Verstärker da hatte. Wir tauschten immer wieder die Instrumente. Es war fantastisch.”

Sie erwähnten Ihre Nummer Eins-Hits. Wo bewahren Sie Ihre Goldenen Schallplatten auf?
“Die sind alle in einem Raum unter dem Dach verstaut. Ich weiß diese Auszeichnungen durchaus zu schätzen. Aber ich habe keine Lust, durch mein Haus zu gehen und sie ständig betrachten zu müssen. Das wäre zu selbstgefällig. Man würde eh nicht unbedingt vermuten, dass hier ein Musiker wohnt. Die einzigen Instrumente, die bei mir rumstehen, sind die meiner Kinder.”

Ihr Haus erinnert demnach nicht an Museum?
“Auf keinen Fall. Ich habe es nicht so mit Antiquiertem. In diesem Moment sitze ich vor meinem High-Tech-Laptop. Ich bin der totale Technik-Liebhaber und mag diese kleinen Maschinen, die dir das Leben erleichtern.”

Bei welchem Projekt – abgesehen von der Session mit Clapton – hatten Sie am meisten Spaß?
“Ohne jetzt zu nazistisch erscheinen zu wollen: Das war der Moment, in dem ich zu Ultravox kam. Denn wir hatten seinerzeit gar nichts. Wir standen ohne Plattenfirma da, der Sänger und der Gitarrist waren ausgestiegen und wir pleite. Doch im Proberaum machten wir so aufregende Musik, wie ich sie noch nie zuvor in meinem Leben gehört hatte. Noch bevor wir Erfolg hatten, war es ein fantastisches Gefühl, Mitglied dieser Band zu sein. Davon ab, hatte ich unglaublich viel Glück, über die Jahre die Leute zu treffen, die ich verehrte. Das Duett mit Kate Bush war zum Beispiel großartig (“Sister And Brother” von seinem 1988 veröffentlichten Album “Answers To Nothing”). Wir waren nicht zusammen im Studio, so dass ich in Tränen ausbrach, als ich den fertigen Song erstmals hörte. Kate hatte Tage damit verbracht, den Gesang mit einem Mehrspurgerät einzusingen.”

Waren Sie bereits ein Fan von Ultravox bevor Sie in die Band kamen?
“Ich war kein Fan der ersten beiden Platten. Ich wohnte zuvor in Glasgow. Da hörte ich von dem Gerücht, Ultravox sei eine künstliche Band. Das war seinerzeit ihr Stigma. So hatte ich wenig Interesse für die Band entwickelt. Bis ich in London die Clubs meines Freundes Rusty Egan aufsuchte und Songs ihres dritten Albums ‘Systems Of Romance’ zu hören bekam. Mir gefielen die Aufnahmen mit Conny Plank in Deutschland als auch die Kombination aus traditionellen Rockinstrumenten und Elektronik.”

Mit eben jenem Egan und Steve Strange gründeten Sie 1978 Visage, deren bekanntester Song “Fade To Grey” ist. Wie denken Sie heute über Visage?
“Auf diesen Song bin ich stolz. Visage war ja nur ein Projekt. Ich durfte bis dahin nie im Studio das machen, worauf ich Lust hatte. Dabei hatte ich großes Interesse am Produzieren, hatte mir gerade meinen ersten Synthesizer gekauft und hörte viel elektronische Musik aus Deutschland und Belgien. Dann versammelte ich all meine Lieblingsmusiker um mich herum: Billy Currie von Ultravox und die Jungs von Magazine. Rusty half mir dabei, und so konnte ich erstmals im Studio nach meinen Vorstellungen Musik machen. ‘Fade To Grey’ basiert auf einem Jam von Currie und Chris Payne, dem Keyboarder von Gary Numans Liveband. Diesen Jam hatten sie immer wieder während einer Numan-Tour gespielt. Ich musste nur noch die Melodie und den Text hinzufügen. Der Song wurde bekanntlich extrem populär und plötzlich in den angesagtesten Clubs in Berlin und New York gespielt.”

Das muss für die restlichen Ultravox-Mitglieder doch frustrierend gewesen sein: Kaum durften Sie mal machen, was Sie wollten, hatten Sie einen weltweiten Hit gelandet.
“Haha. Ich glaube nicht, dass einer frustriert war. Es war ja nicht nur ich. Ohne die anderen hätte ich meine Ideen nie realisieren können. Die Kombination aus Leuten war das Geheimnis – auch bei Ultravox. Ich denke da an den Song ‘Vienna’, der die Ideen aller Vier wiederspiegelt. Vielleicht war ich der Katalysator. Aber ich allein hätte mir diese Songs nicht ausdenken können – genauso wenig wie Ultravox ohne mich. Wir waren zur richtigen Zeit zusammen. Außerdem waren wir jung, naiv und enthusiastisch und hatten viel Glück.”

Nun gehen Sie erneut mit Ultravox auf Tournee. Sind Sie aufgeregt?M.U.: “Wir kennen ja die Geschichten von all den Bands, die auf Reunion-Tour gehen und deren Mitglieder mit eigenem Manager im eigenen Auto reisen. Wir tourten bereits Ende letzten Jahres durch Großbritannien und das in einem Minibus. Ein tolle Erfahrung: Wir redeten und redeten. Das war neu für uns. Wir machen das ja aus Spaß und nicht, um reich zu werden. Die Show kostet Unsummen. Wir werden aber viel Genugtuung erfahren und die Songs auf technisch höchstem Niveau darbieten können. Mich erinnert das fast an einen Urlaubstrip. Wobei die Vorbereitungen intensiv waren: Warren (Cann) hatte jahrelang kein Schlagzeug mehr gespielt, Billy tüftelte ewig am Computer, um die alten Synthesizer-Sounds zu kreieren, und keiner von ihnen hatte je ein In-Ear-Monitorsystem benutzt. Haha.”

Kai Florian Becker (Mai 2010)