Tokio Hotel: Kurzweiliges Spektakel

Es passiert nicht alle Tage, dass eine international erfolgreiche Band, die bis dato weltweit über 40 Awards einheimste, ihre Europatournee in der Escher Rockhal eröffnet. Insofern war das Interesse seitens der Medien und insbesondere der Fans schon im Vorfeld groß. Zumal es sich bei besagter Band um Tokio Hotel handelte, deren Anhänger einen Hang zum Fanatischen haben und etwas hysterisch reagieren können, wenn sie ihren Idolen nahkommen.

Wie sehnsüchtig ihre Anhänger den Auftakt der aktuellen Tour, die 32 Konzerte in 19 Ländern umfasst, erwarteten, war bereits elf Tage zuvor zu spüren. Da positionierten sie die ersten Autos vor der Rockhal. Nur wenige Tage später gesellten sich die ersten Zelte dazu. Am Ende standen trotz eisiger Kälte fast 100 davon auf dem Vorplatz. Schließlich gibt es gewisse Regeln unter Tokio Hotel-Fans: Der Einlass erfolgt nach einer Liste, in die man sich eintragen kann. Wer ganz oben steht, darf als Erstes in die Halle. Verrückt. Zumal nicht nur Teenager ihre Zelte aufschlugen, sondern auch ältere Fans. Ein Indiz dafür, dass die Band kein reines Teenie-Phänomen mehr ist. Davon ab haben sich die Brüder Bill und Tom Kaulitz, Georg Moritz Hagen Listing und Gustav Klaus Wolfgang Schäfer auch musikalisch weiterentwickelt. Während sie 2005 mit dem leicht nervigen Ohrwurm “Durch den Monsun”, der dank eines Plastik-MP3 Players als Menü-Dreingabe einer Fast Food-Kette millionenfach den Weg in unzählige Kinderhände fand, ihre Karriere starteten, klingt ihr aktuelles Album “Humanoid” vergleichsweise erwachsen.

Insofern war die Rockhal am Montagabend nicht nur mit hysterisch kreischenden Kindern und Teenies bevölkert. Unter den knapp 5.000 Fans befanden sich zudem zahlreiche Erwachsene – und das nicht in Begleitung ihrer Sprösslinge. Die einen hatten sichtlich Spaß an der gigantischen Show, die Tokio Hotel boten. Die anderen hatten Spaß mit sich selbst und trugen eine Bill Kaulitz-Perücke und ein lila “Bill ich will ein Kind von Dir”-T-Shirt zur Schau.

Unterdessen gaben Tokio Hotel ihr Bestes, um gleich zum Tourauftakt einen tadellosen Eindruck zu hinterlassen. Was hatten ihre Fans diesen Moment so sehnlichst erwartet, als das Hallenlicht erlosch. Sofort brach ein ohrenbetäubendes Kreischen los. Der Vorhang fiel und zum Vorschein kam eine riesige metallene Kugel, die sich mit dem Einsetzen der ersten Takte von “Komm” öffnete. Drinnen saß Schlagzeuger Schäfer auf einem beweglichen Podest und heraustrat Sänger Bill. Links und rechts von der Bühne hatten bereits Bills Bruder Tom (Gitarre) und Bassist Listing Stellung bezogen.
Dem Motto der Tour entsprechend, das “Welcome to Humanoid City” lautet, glich die Kulisse einer futuristischen, urbanen Industriestätte. Wohin könnte diese besser passen als ins Escher Industriegebiet Belval. Zu schade nur, dass das Konzert nicht draußen vor den rostigen Fabrikruinen stattfand.

Vom dritten Lied an, dem fetzigen “Ich brech aus”, hatte Bill seine anfängliche Nervosität abgelegt und rannte befreit durchs Bühnenbild. Es folgte die erste kurze Unterbrechung: Bill verschwand hinter der Bühne und wechselte sein Kostüm. Die wurden allesamt exklusiv von dem US-Modelabel “Dsquared2” (Madonna, Britney Spears) angefertigt und glichen einem ausgefallenen Mix aus Biker-Outfit, Kiss-Uniform und Raumfahreranzug – alle in schwarzem Leder und mit Nieten und LED-Lämpchen bestückt. Das gefiel nicht nur einer Gruppe junger Damen, die fortwährend in Richtung Bühne riefen: “Umziehen! Umziehen! Umziehen!”. Wahrscheinlich wären sie am liebsten mit Bill hinter der Bühne verschwunden.

Mitten im einem kurzen Akustikset, der mit “Humanoid” eröffnet wurde, bekannte der begehrte Sänger: “Ihr glaubt gar nicht, wie viel uns das hier bedeutet. Vielen Dank, Luxemburg! Dankeschön.” Für die anschließende Ballade “Geisterfahrer” wurden einmal mehr Feuerzeuge entflammt, Leuchtstäbe geschwenkt und die Handys gezückt, um auch diesen Moment digital festzuhalten.

Mit der flotten 80er Jahre-Reminiszenz “Dogs Unleashed”, die englische Version von “Hunde”, rissen Tokio Hotel ihre Fans kurzzeitig aus ihrer sehnsuchtsvollen Stimmung heraus. Die Pianoballade “Zoom”, “Für immer jetzt” und der Hit, den die Band laut Bill seit fünf Jahren jeden Abend spielt, “Durch den Monsun”, markierten das Ende dieses kurzweiligen Spektakels. Zurück blieben weitestgehend beseelte Fans. Darunter auch der überglückliche Ludovic Gros, 16, aus dem lothringischen Seignbouse: “Es war einfach nur geil! Die Jungs haben uns mit Material zugeschmissen”, freute er sich und zeigte die zerknautschte leere Wasserflasche, die ihm Tom Kaulitz zugeworfen hatte. Ebenso überwältigt von der 90-minütigen Show war die sechsjährige Suzanna Barth: “Es war toll. Am besten hat mir von der Band der Tom gefallen. Das beste Lied war ‘Übers Ende der Welt'”, sagte sie, ehe sie sich, sichtlich erschöpft, mit ihren Eltern auf den Heimweg nach Völklingen machte. So schnell wird sie diesen Abend sicherlich nicht vergessen. Wie so viele Tokio Hotel-Fans.

Kai Florian Becker (Februar 2010)