Seit 25 Jahren beschert das Label Touch & Go der Independent-Szene bedeutende Veröffentlichungen: Von den Hardcore-Urgesteinen Negative Approach über die Noiserocker The Jesus Lizard und Girls Against Boys bis hin zu den Postrockern Slint und zuletzt etwa Coco Rosie. Im Interview berichtet Label-Inhaber Corey Rusk von einer bewegten Firmengeschichte. Es war laut eigener Aussage sein vielleicht fünftes Interview seit seiner Zeit als Bassist bei der Hardcore-Band Necros.
Corey Rusk ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnlicher Label-Betreiber. Vielleicht sogar einer der letzten seiner Art. Es gibt sicherlich nicht mehr viele, die ihren Künstlern und Bands gerne einen Tantiemen-Scheck ausstellen. Zumal Rusk seit der ersten Touch & Go -Veröffentlichung jeder Band 50 Prozent des Reingewinns aus den Verkäufen zugesteht. Ein in der Branche ungewöhnlicher Deal. Bei nahezu allen Veröffentlichungen habe er diese überaus soziale Art der Gewinnausschüttung praktiziert.
„Vielleicht handhabe ich das so, weil ich selbst mal Musiker war. Jedenfalls bin ich immer sehr glücklich und aufgeregt, wenn ich einer Band einen Scheck ausstellen darf. Ich gönne es meinen Bands, da ich mit ihnen befreundet bin. Und ich will, dass sie fair behandelt werden. Vielleicht sollte ich diese Einstellung als kapitalistischer Firmenboss nicht haben und lieber alles daran setzen, mehr Geld zu scheffeln. Ich will aber, dass Label und Band fortbestehen. Ich suche auch nie nach dem nächsten großen Ding, wenn ich nach Bands Ausschau halte. Ich suche nach einer Band, die gut in unser Programm und gut zu unserer Philosophie passen könnte.“
Das sagt Rusk, der vor 25 Jahren das Indielabel Touch & Go aus der Taufe gehoben, damit er die selbst betitelte Vinylsingle seiner damaligen Band Necros auf den Markt bringen konnte. Die trägt folglich die Katalognummer T&G01 und erschien 1981. Weitere Singles befreundeter Bands aus der Hardcore-Szene in Ohio und Michigan folgten. Das Geld für die ersten Veröffentlichungen bekam Rusk von Tesco Vee und Dave Stimson, die ein Fanzine mit Namen Touch & Go hatten. Somit war das Startkapital und der Name da, Bands gab es sowieso genügend. Später verlud er Holz und lieferte Pizza aus, um weitere Veröffentlichungen zu finanzieren.
„Als wir anfingen, war Touch & Go nicht als Firma gedacht. Das Label sollte keine 25, nicht einmal fünf Jahre alt werden. Es entstand aus dem Bedürfnis heraus, die Platten meiner Band und die von Freunden zu veröffentlichen“, so Rusk, der mittlerweile 41 Jahre ist und dessen Label nach nunmehr drei Umzügen in Chicago ansässig ist und 25 Angestellte vorweisen kann.
Nach dem Ausscheiden von Tesco Vee, den es im Herbst 1982 nach Washington verschlug und der weiterhin mit der Punkband The Meatmen für Furore sorgte, leitete Rusk das Label einige Jahre mit seiner ersten Ehefrau Lisa. In Detroit betrieb er mit ihr auch den All Ages-Club Graystone . Das Gebäude, in dem der Liveclub angesiedelt war, gehörte dem High School-Lehrer Russ Gibb. Der hatte in Detroit einst den weltberühmten Laden Grande Ballroom geführt, in dem Bands wie die Stooges und MC5 sowie Jimi Hendrix auftraten.
„Gibb war ein unglaublicher Kerl. Man muss sich nur mal vorstellen, dass er Mitte der Achtziger an der High School Multimedia-Kurse gab. Er war ein Visionär“, so Rusk. Nach einigen Jahren in Detroit zog das Label weiter nach Chicago. Rusk und seine Frau trennten sich 1989, zwei Jahre später ließen sie sich scheiden und gingen fortan auch beruflich getrennte Wege. Rusk hatte parallel zu Touch & Go 1990 das Label Quarterstick gegründet, dessen Geschicke er alleine lenken konnte. „Ich wollte allein entscheiden können, was veröffentlicht wird und was nicht. Zudem wurde seinerzeit Touch & Go ständig auf Urge Overkill , Jesus Lizard und Big Black reduziert. Da gab es aber noch andere Bands, die ich interessant fand. Mittlerweile hat das Label eigentlich keine wirkliche Existenzberichtigung mehr.“ Denn Rusk ist seit vielen Jahren alleiniger Inhaber von Touch & Go .
Wobei hinter Touch & Go mehr als nur ein Label steckt. Anfang der Neunziger erweiterte Rusk sein Betätigungsfeld um das Herstellen und Vertreiben von Tonträgern – im Auftrag kleinerer Indie-Firmen, die auf dem infrastrukturschwachen US-Markt sonst kaum einen Fuß auf den Boden bekommen hätten, geschweige denn mit größeren Handelsketten in Kontakt gekommen wären. „Viele fangen aus Liebhaberei an, Musik zu veröffentlichen oder zu vertreiben. Insbesondere in den Achtzigern hatten wenige eine Vorstellung davon, wie man die geschäftlichen Geschicke zu lenken hatte. So kamen und gingen die Kleinstvertriebe. Diejenigen, die überlebten, beurteilten ein Label nur anhand der nächsten Veröffentlichung. Sie wollten dir nur das Geld, das sie mit dem Vertreiben deiner Platten gemacht hatten, auszahlen, wenn sie etwas von dir wollten. Wie sollte man unter diesen Voraussetzungen Angestellte regelmäßig bezahlen können?“, fragte sich Rusk.
Da Rusk erkannt hatte, wo die absoluten Stärken von Touch & Go lagen – nämlich beim Versand und der Produktion von Tonträgern -, bot er diese Dienste Labels wie Dim Mak , Drag City , Jade Tree , Kill Rock Stars , Merge Records und Trance Syndicate an. Touch & Go wurde zum Hybriden – teils Label, teils Vertrieb. „Wir schufen ein Netzwerk von Labels, die mindestens eine großartige Platte pro Monat veröffentlichten. Womit die größeren Vertriebe gezwungen waren, regelmäßig zu zahlen. Zum einen beliefern wir nunmehr die 300 wichtigsten Indie-Plattenläden direkt, zum anderen kooperieren wir mit kleineren bis mittleren Vertrieben und den großen Handelsketten.“
Allerdings betrifft dies ausschließlich den US-Markt. In Europa kennt man Touch & Go alleinig für seine stilprägenden und essentiellen Veröffentlichungen im Indieland. Da waren etwa die genialen Noiserocker The Jesus Lizard , die auf Platte mit ihrer Aggressivität ein Feuer entfachen konnten, das aber erst live, durch die wilde Performance des stets provozierenden Sängers David Yow zum Flächenbrand geriet. In den letzten Monaten fiel in verschiedenen Rezensionen, die sich mit Postrock oder atmosphärischer Indiegitarrenmusik beschäftigten immer wieder der Bandname Slint . Auch die stammen aus dem Touch & Go -Stall und waren Vorreiter für einen Sound, den heute Mogwai , Ostinato oder Godspeed You Black Empereor ! zelebrieren. Nur nahm 1991, als sie ihr zweites Album „Spiderland“ bei Rusk veröffentlichten, kaum einer Notiz von der Band. Erst mit den Jahren erkannte man den musikalischen Wert des Albums und wurde die Voreiterrolle von Slint herausgestellt.
„Ich hätte nie gedacht, dass Slint ein solchen Einfluss haben könnten“, gesteht Rusk. „Zumal sie sich schon aufgelöst hatten als ‚Spiderland‘ auf den Markt kam, und die Presse das Album weitestgehend ignoriert hatte. Sie waren ihrer Zeit voraus. Erstaunlich finde ich, dass zehn Jahre später die Verkaufszahlen steigen und steigen. ‚Spiderland‘ ist ein solch großartiges Album, das erst dank Mund-zu-Mund-Propaganda Anerkennung fand. In den 25 Jahren als Labelchef erlebte ich viele deprimierende Momente. Etwa wenn tolle Musik ignoriert, das Mittelmaß aber gefeiert wird. Da ist es ermutigend, dass Slint letztlich mit dieser brillanten und einzigartigen Musik Gerechtigkeit widerfahren ist.“
Einige der Bands, die in den letzten Jahren auf Touch & Go ihre Platten veröffentlichten, werden anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Labels auf einem Festival in Chicago auftreten. Vom 8. bis 10. September werden die noch aktiven Bands The Black Heart Procession , Calexico , Coco Rosie , Pinback und Shellac dem Label huldigen. Außerdem sind einige Bands dabei, die sich extra für dieses Festival reformieren werden – unter anderem die Didjits und Scratch Acid , beide in Originalbesetzung. Verhandlungen mit weiteren ehemaligen Bands laufen noch. Rusk wollte aber nicht verraten, wer noch auf seiner Wunschliste steht. Listen sind sowieso nicht sein Ding. Seine Lieblings- Touch & Go -Band wollte er ebenso wenig preisgeben wie seine Lieblings- Touch & Go -Platte. Aber er verriet, dass „Songs About Fucking“ von Big Black der Verkaufsschlager sei. Über all die Jahre hatte sich dieses Album aus dem Jahre 1987 am beständigsten verkauft. Was auch nur daher rührt, dass Rusk jedes Album nachpressen lässt, sofern abzusehen ist, dass sich noch mindestens 500 Exemplare absetzen lassen. Von den Butthole Surfers verkauft er allerdings keine Alben mehr. Die hatten in den Neunzigern, zu dem Zeitpunkt bereits bei dem Major-Label Capitol unter Vertrag, gegen Touch & Go geklagt und die 50 Prozent des Reingewinns aus den Verkäufen, die an das Label gingen, eingeklagt. Letztlich bekamen die Butthole Surfers Recht: Jedoch verscherzten es sich als bisher einzige Band mit Rusk. Im Labelkatalog sucht man ihre Platten vergeblich. Dieses eine Mal hatte sich Rusk in einer Band getäuscht.
Für kurze Zeit kam er ins Grübeln, ob er die Praxis, Verträge per Handschlag zu besiegeln, über Bord werfen sollte. „Dieses Urteil machte jedem Angst. Und viele Indielabels entschieden sich, ab diesem Zeitpunkt Verträge aufsetzen zu lassen, damit ihnen nicht Ähnliches passiert. Ich nicht. In all den Jahren hatte ich nur einen Streitfall. Warum sollte ich also meine Grundsätze ändern? In den letzten Jahren wurden allerdings hier und da schriftliche Verträge abgeschlossen. Aber nur, weil diese zwecks der digitalen Vermarktung von Musik notwendig wurden.“ Rusk hat es auch nie bereut, eine Band nicht unter Vertrag genommen zu haben. An einen Fall kann er sich jedoch ganz genau erinnern. Kurz nachdem Nirvana ihr Debüt „Bleach“ veröffentlicht hatten, besuchte Rusk eines ihrer Konzert. Er traf Kurt Cobain und kam mit ihm ins Gespräch. Cobain sagte plötzlich, dass Touch & Go das einzige Label gewesen wären, für das Nirvana gerne gearbeitet hätten. „Wir hatten euch ein Demo geschickt, doch nie etwas von euch gehört“, sagte Cobain laut Rusk. Der konnte das natürlich nicht glauben, schließlich hatte er – zumindest in den ersten Jahren des Labels – alle Demos selbst gehört. Zurück im Büro durchsuchte er alle Kartons, fand aber kein Demo von Nirvana . „Natürlich glaube ich Kurt die Geschichte. Vielleicht ging das Tape auf dem Postwege verloren. Oder der Klang war so merkwürdig, dass wir es nicht in die engere Auswahl gezogen hatten. Ich kann es nicht sagen. Das jedenfalls ist meine Nirvana -Geschichte.“
Es ist nicht auszumalen, was aus Touch & Go geworden wären hätte Rusk tatsächlich Nirvana unter Vertrag genommen. Doch auch ohne die Grunge-Ikonen und immer wieder dank der Mithilfe von Über-Produzent Steve Albini ist Touch & Go zu einem der weltweit wichtigsten und angesehensten Indie-Labels aufgestiegen. Dass Albini (ehemals Mitglied bei Big Black und Rapeman , nunmehr bei Shellac ) an dem Erfolg einen großen Anteil hatte, dessen ist sich Rusk bewusst. „Schau dir nur unsren Katalog an und du wirst so viele brillante Alben finden, die er produziert hat. Davon abgesehen kenne ich ihn seit der Zeit in Detroit. Er war stets ein Freund des Labels und einer von mir. Er verlangte nie viel Geld für eine Produktion, weil er an die Bands glaubte, mit denen er arbeitete. Er hat auf jeden Fall das Seinige für den Erfolg und das Überleben des Labels beigetragen.“
Kai Florian Becker