Pop- und Rockkünstler tendieren dazu, etwa alle zwei bis fünf Jahre neue Musik oder ein neues Album zu veröffentlichen. Bei Klassikkomponisten ist das anders. Wer sich anschaut, was beispielsweise der in Deutschland geborene Brite Max Richter allein in letzten drei Jahren an neuer Musik hervorgebracht hat, wird sich verwundert die Augen reiben: Das Angebot reicht von seinem fast achteinhalbstündigen Mammut-Album „Sleep“ über Musik für TV Serien (siehe „The Leftovers“) bis hin zu Film-Soundtracks.
Nun hat Richter, der gemeinhin der zeitgenössischen Klassik zugeordnet wird, eine musikalische Hommage an die englische Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) komponiert. „Three Worlds: Music From Woolf Works“ (Deutsche Grammophon/Universal) basiert auf Richters Arbeit für „Woolf Works“, eine Produktion des Ballett-Choreografen Wayne McGregor, die 2015 am Londoner Royal Opera House Premiere feierte. Die Songs wurden inspiriert von Woolfs Werken „Mrs Dalloway“ (1925), „Orlando – eine Biographie“ (1928) und „Die Wellen“ (1931). Ergänzt werden Richters Kompositionen durch Woolfs Stimme, entlehnt von der einzig existierenden Tonaufnahme von ihr, die 1937 von der BBC angefertigt wurde. Auch Schauspielerin Gillian Anderson, bekannt aus den TV-Serien „Akte X“, „Hannibal“ und „The Fall – Tod in Belfast“, ist zu hören. Sie liest in dem fast 22-minütigen Stück „Tuesday“ den rührenden wie deprimierenden Abschiedsbrief vor, den Woolf kurz vor ihrem Selbstmord an ihren Ehemann Leonard Sidney Woolf verfasst hatte.
Richters Lieder sind ruhig, getragen, besinnlich und im Hinblick auf Instrumentierung und Stimmung abwechslungsreich. Zum Klavier gesellen sich in „Words“ Streicher und in „Love Songs“ Naturgeräusche. Kein Lied als solches, sondern eine Art düsteres Dröhnen ist „Morphology“. In dem melancholischen „In The Garden“ erklingt das Deutsche Filmorchester Babelsberg, und in „Entropy“ wechselt Richter von der Klassik in die Welt der atmosphärischen Elektronik. Auch in „Persistence Of Images“ und „Genesis Of Poetry“ experimentiert er mit modernen Sounds, was bei zeitgenössischen Komponisten keine Seltenheit ist – siehe Nils Frahm und Jóhann Jóhannsson.
Während Richter stellenweise von der Klassik ins Electro-Genre wechselt, kommen Minor Victories vom Dreampop/Shoegaze/Postrock in die Klassik. Die Band von Rachel Goswell, Frontfrau der reformierten Dreampop/Shoegaze-Oldies Slowdive, Editors-Gitarrist Justin Lockey, dessen Bruder James Lockey (Bass) und Mogwai-Gitarrist Stuart Braithwaite veröffentlicht sieben Monate nach ihrem Debüt eine neue Version des Albums namens „Orchestral Variations“ (PIAS/Rough Trade). Sie haben die ursprünglichen Songs, die u.a. auf Streicherarrangements basieren, dekonstruiert, die Gesangsspuren gelöscht, mit Piano, Streichern, Percussions und Keyboard neu aufgenommen und in einer anderen Reihenfolge angeordnet. „Orchestral Variations“ ist ein eigenständiges Klangerlebnis und keineswegs ein gewöhnliches Remixalbum geworden.
Kai Florian Becker (Januar 2017)