Kritisch – und unabhängig?

Popmusikberichterstattung ist allgegenwärtig. Aber ist sie auch unabhängig? Nimmt die Musikindustrie in irgendeiner Form Einfluss auf die Arbeit der Freien oder die in den Print-, Online- und Radio-Redaktionen? Und wie wichtig ist Popmusikkritik überhaupt?

Keine Frage: Die Musikindustrie hat schon bessere Zeiten erlebt. Die Umsätze fallen stetig. 2006 wurden “etwa 3,3 Prozent weniger CDs verkauft als 2005” (Quelle: Musikwoche.de, 10.01.2007). Zudem werden vier Mal so viele CDs kopiert wie verkauft. Um CDs zu verkaufen, muss über sie berichtet werden – noch zumindest. Popmusikrezensionen und Interviews mit Popstars sind heutzutage überall zu finden: nicht nur in Special Interest-Magazinen, auch in Tageszeitungen, Erotik- und TV-Programmzeitschriften. Da die Industrie aber immer mehr zum Sparen gezwungen ist, wird die Arbeit der Musikkritiker immer schwieriger – egal ob sie nun in einer Redaktion sitzen oder frei arbeiten. Beispielsweise kann von heute auf morgen der vertraute Pressebetreuer einer Plattenfirma aus Gründen der Rationalisierung gegangen worden sein. Die mögliche Folge: Die Verbindung zum Label ist gekappt, der Musikkritiker wird aus dem Presseverteiler gestrichen, CDs werden nicht mehr verschickt. Dann kann man sich aber noch als registrierter User auf der von der Industrie überwachten Website www.musik-promotion.net (MPN) Neuveröffentlichungen anhören. Dort stehen aktuelle Singles und Alben einiger größerer Firmen als Stream bereit. Allerdings ist der “elementare Bestandteil einer Pop-Kritik immer der Zugriff auf das fertige Produkt: das Cover, das Booklet mit Texten, Danksagungen, Anmerkungen und Eigenheiten. Werkzeuge wie MPN sind von der Musikindustrie sicher nicht in erster Linie als Erleichterung für Journalisten erfunden worden, sondern als Kontrollmaßnahme gegen Raubkopierer”, erklärt Andreas Borcholte, Kulturressortleiter bei Spiegel Online. Zudem empfinde er es – wie auch viele seiner Kollegen – “als äußerst unangenehm, wenn die Plattenfirma per MPN nachsehen kann, welches Album von welchem Künstler ich mir wann und wie lange angehört habe”.

Der freie Musikjournalist Manuel Möglich glaubt, dass sich die Industrie mit der “digitalen Bemusterung” nicht schütze, sondern schade. “Das hat nur zur Folge, dass diese Alben den physisch bemusterten Tonträgern gegenüber benachteiligt werden. Benachteiligt insofern, dass man einer CD immer noch den Vorzug gibt”. Tatsächlich verfahren so mittlerweile einige Musikmagazine.

Wenn Tonträger verschickt werden, dann sind das oftmals (gebrannte) CDs ohne Cover oder Textblatt, bei wichtigen Themen sogar noch mit einem personifizierten Wasserzeichen versehen. Der Journalist gefangen im Kontrollsystem der Industrie. Ein seit Jahren bekanntes und lästiges Phänomen. Bereits 2003 beschrieb Thomas Venker, damals wie heute Chefredakteur des Musikmagazins Intro in seinem Buch “Ignoranz und Inszenierung. Schreiben über Pop.”, zu welchen Vorsichtsmaßnahmen die Industrie aus Angst vor “undichten Stellen” in den Redaktionen greife. Journalisten werden mit “eingeschränkt hörbaren CDs” bemustert, “auf denen die Stücke ausgeblendet oder die durch Störgeräusche für den illegalen Markt uninteressant gemacht wurden”. Dies macht eine kritische Auseinandersetzung extrem schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Gleiches gilt für so genannte “Listening Sessions”. Auserwählte Journalisten dürfen sich nur gemeinsam mit KollegInnen das Album vor dem Veröffentlichungstermin ein oder zwei Mal anhören. Diese Methode verdeutliche, dass “der Journalist ganz oben auf der Liste der Tatverdächtigen in Sachen Internetbrennkriminalität”, so Venker.
Abgesehen von der möglichen indirekten Einflussnahme der Industrie, etwa durch die “Verknappung der Ressourcen”, wie es Borcholte nennt, ist der Einfluss auf die Redaktionen der Musikmagazine direkter Natur. Es ist keine Seltenheit, dass “Plattenfirma xy beim Magazin xy eine Titelgeschichte zugesichert bekommt. Im Gegenzug wird über ein Anzeigenpaket verhandelt”, weiß Möglich, der vor einigen Jahren selbst in der Musikbranche als Promoter tätig war. Zudem offerierten Plattenfirmen im Rahmen einer “gekauften Coverstory” exklusive Fotoserien oder Interviewreisen. Tritt dieser Fall ein, wird es kompliziert: Denn “man darf es sich nicht leisten, in dieser angespannten wirtschaftlichen Lage, Schlechtes über ein Produkt zu schreiben, sobald die Plattenfirma im eigenen Magazin mit Anzeigen dafür wirbt”, erklärt Magazinredakteur Friedrich (Name von der Redaktion geändert). Allerdings gäbe es auch Magazine, “die frei von Anzeigen und Vergütungen jeglicher Art, Künstler auf ihren Titel nehmen oder über sie berichten”, erklärt Möglich.

Während im Bereich Print die direkte Einflussnahme der Industrie je nach Publikation groß sein kann, gilt dies nicht für das Radio. Die Industrie versuche natürlich, “den Sendern das Ausspielen bestimmter Titel hie und da zu versüßen. Exklusivpremieren und -töne sind Beispiele für eine solche Strategie”, erklärt Christian Langhorst, Wellenchef von SR 1 Europawelle und 103.7 UnserDing (Saarländischer Rundfunk). Welche Titel in das SR 1-Programm aufgenommen werden, diese Entscheidung trifft die Musikkonferenz. “Und die Teilnehmer sind unbestechlich. Als öffentlich-rechtlicher Sender ist das alternativlos.” Möglich, selbst für Eins Live (WDR) tätig, bestätigt die Unabhängigkeit der Öffentlich-rechtlichen: “Diese haben einen Kulturauftrag zu erfüllen und das wird bei Eins Live sehr ernst genommen und umgesetzt”. Indirekten Einfluss hat die Industrie hingegen auf kleine Sender. Etwa wenn diese Interviews mit international bekannten Stars senden wollen, diese aber nicht selbst interviewen können oder dürfen. Dann wird auf von der zuständigen Plattenfirma produzierte und via MPN angebotene Interviews – sogenannte Generic Interviews – zurückgegriffen. “Mal strahlen wir eigens geführte Interviews aus, mal einzelne O-Töne aus Generic Interviews. Solange man einzelne Töne daraus verwendet und sie entsprechend gekennzeichnet kommentiert, halte ich das für einen aufrichtigen Weg”, erklärt Langhorst. Dennoch: Generic Interviews sind nur bedingt als objektiv zu erachten – geschweige denn kritisch.

Wenn Interviewtermine gewährt werden, dann sieht man sich – zumindest bei den großen Stars – nicht selten mit thematischen Einschränkungen konfrontiert. “Es kommt vor, dass die Plattenfirma Fragen untersagt, die nicht direkt auf die jeweils neue Tour/CD/DVD (eines Künstlers) Bezug nehmen”, hieß es diesbezüglich in der “Süddeutschen Zeitung” (23.06.2006). Bestimmte Themen dürfen nicht angesprochen werden. So durften Journalisten Charlotte Gainsbourg, Tochter des 1981 verstorbenen französischen Sängers Serge Gainsbourg, keine Fragen über ihren Vater stellen. Dabei hatte die Künstlerin mit diesem Thema überhaupt kein Problem, wie sich später in den Interviews zeigte.

Auch die Berichterstattung über Popkonzerte ist schwieriger geworden: Mit Knebelverträgen wird die Arbeit der Fotojournalisten eingeschränkt (siehe Robbie Williams). Art und Dauer der Nutzung von Konzertfotos werden zudem streng reglementiert.

Online-Medien haben nach wie vor einen generell schweren Stand bei den Plattenfirmen. “Selbst wenn sie als seriös erachtet werden, gelten noch immer verschärfte Bedingungen. Man wird später als Printmedien bemustert und ist einem größeren Misstrauen ausgesetzt”, erklärt Borcholte, der allgemein die Möglichkeiten der Einflussnahme durch die Musikindustrie auf die Redaktionen für gering hält. Aber “wenn Journalisten von der Plattenfirma nicht rechtzeitig oder ausreichend mit entsprechendem Ton- und Pressematerial versorgt werden, wie es gerade bei Online-Medien der Fall ist, dann kann eine kritische Berichterstattung über einen Künstler erschwert, manchmal sogar verhindert werden”, mahnt Borcholte an.
Dass professionelle Musikkritik im Zeitalter der Konkurrenz durch Internetblogs sehr wichtig ist, darüber sind sich alle Interviewten einig. Nur was die kritische Musikberichterstattung angeht, divergieren die Meinungen. Borcholte und Möglich glauben an die unabhängige Musikkritik. Friedrich indes ist überzeugt, dass “kritische Musikberichterstattung in Verkaufsmagazinen nicht mehr möglich” ist. Je unabhängiger also ein Medium von Marketing- und Werbegeldern der Industrie agiert, desto kritischer und glaubwürdiger kann die Berichterstattung sein.

Kai Florian Becker