TV On The Radio: Von Verlust und Obsession

2001 gründeten Sänger Tunde Adebimpe und Multiinstrumentalist und Produzent David Andrew Sitek in Brooklyn TV On The Radio. Später kamen weitere Mitglieder hinzu und der anfängliche Indierock wurde immer ausgefallener, experimenteller und auch elektronischer. Das jüngste Album ist das Ende des letzten Jahres veröffentlichte fünfte Werk „Seeds“. Heute wohnen sowohl Adebimpe als auch Sitek in Los Angeles, während ihre Mitstreiter in New York blieben. Ein Gespräch mit Adebimpe.

Meines Wissens nach spielen alle Mitglieder in Ihrer Band mehrere Instrumente. Wer ist die antreibende Kraft, wenn es ums Songschreiben geht?
Tatsächlich bin ich kein Multiinstrumentalist. Ansonsten tragen wir alle etwas zum Songschreiben bei. Wir sammeln die Ideen, die wir als Demos zu unseren Treffen mitbringen, und entscheiden als Kollektiv, was wir davon benutzen und was nicht. Einige Songs entstehen recht schnell, andere brauchen mehr Zeit. Unsere Musik ist jedoch eine Kollaboration von uns allen.

Stimmen Sie der These zu, dass Ihre Alben immer elektronischer werden?
Hm, ich weiß nicht. Wir hatten immer elektronische Elemente. Vielleicht fällt das bei unserem aktuellen Album tatsächlich mehr auf, weil die Lieder mehr Platz einnehmen. Die Arrangements sind auch direkter und spärlicher. Die Textur stimmt und passt zu der Richtung, die die Songs eingeschlagen haben.

Wissen Sie immer vorher, in welche Richtung die Songs gehen werden oder lassen Sie sich treiben?
Ich habe keine Ahnung, in welche Richtung wir uns gerade entwickeln. (lacht) Generell lassen wir uns treiben. Wir haben beispielweise ein Demo und experimentieren viel damit rum. Man kann das mit der Entstehung eines Gemäldes vergleichen. Irgendwann sagt einem das Bild, dass es fertig ist und man aufhören soll. Ich weiß nicht, wie das immer wieder funktioniert, aber so ist es. Sagen wir es mal so: Wir lassen uns treiben, geben aber nicht ganz die Kontrolle aus der Hand.

Ist es nicht schade, dass seit Ihrer Gründung wahrscheinlich zahlreiche halb oder fast fertige Songs auf der Strecke geblieben sind?
Nein, das ist ok. Vielleicht können wir deren Fertigstellung in Angriff nehmen, wenn wir über 60 Jahre alt sind. (lacht) Zum damaligen Zeitpunkt haben sie einfach nicht funktioniert. Man vergisst sie auch. Dave hat vor einiger Zeit Festplatten gefunden, auf denen sich unbenutzte Songs aus der Zeit von „Return To Cookie Mountain“ und „Dear Science“ befinden. Wir hörten uns einige an. Es waren nahezu 200 Songs, die mal mehr, mal weniger weit ausformuliert sind. Aus heutiger Sicht versteht man, warum wir sie nicht fertig komponiert haben, weil sie teils schlichtweg scheiße sind. Einige könnten heute vielleicht den Grundstein für einen anderen Song legen. Ich weiß es nicht. Es ist eigentlich gut, wenn man weiß, dass es oft auch nicht funktioniert hat.

Abgesehen davon, dass sie sich mit nahezu jedem Album neu erfinden, schaffen Sie es, dass jedes Ihrer Alben sich nach TV On The Radio anhört. Wie gelingt Ihnen dieser knifflige Spagat?
Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Wir machen immer das, was dem Song dient. Dazu gehört eben auch, dass es irgendwie nach uns klingt. Auch wenn du dir die Haare schneiden oder einen Bart wachsen lässt, bist es ja immer noch du. Insofern finde ich, dass ganz egal, was wir auch machen, es am Ende immer nach uns klingt. Das liegt an den Songs an sich, den ihnen zugrundeliegenden Ideen und ihren Strukturen.

2011 verstarb Ihr Bassist Gerard Smith. Stand seinerzeit die Frage im Raum, die Band aufzulösen? Und haben Sie versucht, ihm mit „Seeds“ zu ehren?
Jeder, der ein Familienmitglied oder einen guten Freund verliert, weiß, wie schlimm das ist. So ist es eben. Jeder hat seinen Weg, damit klar zu kommen. Was sein Gedenken anbelangt, so ist das größte Tribut, das wir ihm zollen können, weiterzumachen. Wenn jemand einen so großen Einfluss auf dich hatte, wird er immer Teil dessen sein, was du machst oder erschaffst. Deshalb sollte man als Gruppe oder als Individuum nicht aufgeben. Und während man weitermacht, erinnert man sich an die, die gegangen sind und einen geprägt haben.

Anderes Thema: Sie sind regelmäßig Gast auf Alben anderer Künstler. Planen Sie, irgendwann ein Soloalbum zu veröffentlichen? Wie würde das klingen?
Tatsächlich tue ich das. Ich bin seit etwa zwei Jahren damit beschäftigt, kann aber noch nicht abschätzen, wie es klingen wird. Ich möchte mir wirklich Zeit lassen und mich intensiv damit auseinandersetzen. Mehr als sonst. Ich weiß aber jetzt schon, dass es zu dem Album auch einen Film und ein Buch geben wird. So sieht zumindest der Plan aus.

Bekanntlich sind Sie nicht nur Sänger, sondern auch Regisseur, visueller Künstler, Comiczeichner, um nur einige Ihrer Professionen zu nennen. Woher rührt Ihr Interesse fürs Visuelle?
Oh, das war schon lange vor dem an der Musik da. Ich malte, machte Kurzfilme und vieles mehr. Ich halte es nicht lange aus, ohne mich damit zu beschäftigen. Ich habe kürzlich ein Buch mit Zeichnungen veröffentlicht, die ich zwischen den Jahren 2003 und 2014 auf unseren Tourneen machte. Es ist eine Art Obsession geworden, zu zeichnen. Eine nervöse Obsession sozusagen. Ich bin sehr daran interessiert, wie das Visuelle mit Sounds korreliert – wie die Öffentlichkeit Bilder und Musik wahrnimmt. Wenn ich zum Beispiel einen Videoclip konzipiere, kann dieser einerseits den dazugehörigen Song pushen. Er kann aber auch für sich allein stehen. Das vermisse ich oft. Wenn ich mir die heutigen Musikvideos ansehe, ist es leider sehr schlecht um sie bestellt.

Obendrein sind Sie auch Schauspieler. Schenkt Ihnen das kreative Arbeiten viel Energie oder kostest es auch Energie?
Hm, auch darüber habe ich noch nie nachgedacht. Es gibt mir wohl Energie – schwer zu sagen. So lebe ich eben gerade. Ich wüsste nicht, was ich anderes tun sollte. Wenn mir morgen jemand sagen würde, ich könnte nicht mehr singen, nicht mehr zeichnen, nicht mehr malen, nicht mehr schauspielern, dann würde ich versuchen, Medizin zu studieren und alles daran setzen, ein guter Arzt zu werden. (lacht) Bis dahin setze ich alles daran, künstlerisch tätig zu sein, und hoffe, dass ich damit den Menschen etwas Nützliches geben kann.

Kai Florian Becker (August 2015)